Es grünt und blüht
Anja hatte sich hervorragend mit ihrer Tante verstanden. Sie war wie eine zweite Mutter für sie gewesen. Schon seit der Kindheit vertraute sie sich oftmals lieber ihrer Tante an, als ihrer Mutter. Dort fand sie immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Probleme. Nun war Tante Gisela in der vergangenen Woche verstorben. Für Anja bedeutete das einen herben Verlust. Oft saß sie traumverloren und dachte an die schönen Zeiten zurück. Die alte Dame hatte keine Güter gehabt, die sie hätte vererben können, nur ihren Garten besaß sie und der war ihr Lieblingsplatz. Gerade dort hatten die Beiden oft gesessen. Damals war die Laube noch gut in Schuss. Jetzt war sie zerfallen, so wie der gesamte Garten einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte. In den letzten Jahren war die Tante nicht mehr in der Lage gewesen, ihn zu bearbeiten. Anja war nur noch selten hier gewesen, da sie ihr Studium aus der Heimat fortgezogen hatte. Jetzt hatte sie den Garten geerbt. „Was soll ich nur damit anfangen“, überlegte die junge Frau. Trotz der geliebten Erinnerung, fehlte ihr doch völlig der Hang zur Gartengestaltung. Außerdem war sie ja viel zu weit fort, um sich um die Pflege des Gartens und der Pflanzen zu kümmern. So blieb nur eins, im Frühjahr würde sie den Garten verkaufen, hatte sie sich vorgenommen. Nicht unbedingt an den Meistbietenden, sondern an einen Gartenfreund, dem sie damit eine Freude machen konnte. Aber bis dahin war noch Zeit, jetzt begann erst der Herbst und so konnte Anja über ihre Entscheidung nachdenken.
Sie fuhr wieder zurück in die Großstadt, denn im kommenden Sommer würde sie ihr Studium beenden und bis dahin gab es noch eine Menge zu tun. In Gedanken war sie sowieso bei ihrer Tante. Fast jede Nacht träumte sie von ihr. Sie gingen im Traum die gewohnten Wege, Anja war wieder ein Kind, ach war das herrlich! Etwas traurig war sie beim Erwachen. Je mehr Zeit ins Land zog, um so mehr drehten sich Anjas Träume um den Garten, sie sah ihn blühen in alter Pracht. Was war er nur für ein Schmuckstück gewesen.
Doch dann geschah etwas Seltsames, die Träume wandelten sich. Ab und zu stellten sich Anja in ihren Träumen die schönsten Blumen vor. Blüten entfalteten sich, die sie nie zuvor gesehen hatte. Diese Träume waren so eindrucksvoll und schön, dass Anja sich, sobald es ihre Zeit erlaubte, an den Computer setzte, um nach diesen Blumen zu forschen. Meist fand sie diese auch recht schnell. Nach und nach verliebte sie sich in die Vielfalt der Blüten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie den Garten ihrer Tante in solch ein Blütenmeer verwandeln würde. Dann verwarf sie den Gedanken auch wieder, weil sie viel zu weit entfernt war, um ihn zu pflegen. Als Anja jedoch gegen Ende des Winters einen recht umfangreichen virtuellen Garten entworfen hatte, überwog doch die Sehnsucht, diese Blütenpracht in der Realität vor sich zu sehen. So war die Entscheidung gefallen, den Garten nicht zu verkaufen. Sie beendete ihr Studium und zog sich in eine Kleinstadt ihrer Heimat zurück. Schon bald begann sie damit, den Garten urbar zu machen. Nach drei Jahren voller Arbeit hatte sich Anja ihren Traum erfüllt. Nun saß sie abends oft vor der Laube und genoss bei einem Glas Wein und einem guten Buch ihre Freizeit.
Als sie eines Abends wieder so saß, vernahm sie eine Stimme: „Anja, so habe ich mir das vorgestellt. Ich wusste, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe." Anja sah sich um und lächelte, so sehr war sie noch mit ihrer Tante verbunden, dass sie schon Stimmen hörte? Nur zum Spaß fragte sie: „Wer bist du?" „Ich bin der Kobold dieses Gartens, ich habe dir die Blütenträume gebracht, die dich dazu bewogen diesen Gartengenau so anzulegen." „Das ist ja ein Ding, jetzt habe ich auch noch einen Kobold!", lachte Anja. „Da dachte ich, dass ich diesen Garten entworfen hätte, dabei warst du es." Der Kobold ließ nie wieder von sich hören, aber Anja wusste, dass sie nicht alleine war, wenn sie jetzt vor ihrer Laube saß. Bald sprach es sich herum, dass es einen wunderschönen Blumengarten am Ortsrand gab. Angelockt kamen immer wieder neue Gäste, die sich von dem Mädchen beraten lassen wollten. So dachte Anja nach Jahren: „Ein besseres Erbe hätte mir Tante Gisela nicht hinterlassen können, schade, dass sie es nicht mehr sehen kann, was aus ihrem Garten geworden ist.“ Auch die Arbeit in der nahen gelegenen Stadt bereitete ihr zunehmend Freude. Wenn die junge Frau später mit ihren Kindern in den Garten kam, erzählte sie ihnen oft diese Geschichte.
(Christina Telker)